Content Notes
  • Erschöpfung und körperlicher Schmerz: Die Protagonistin ist lange unterwegs, leidet unter Müdigkeit und körperlichen Beschwerden.
  • Blut und Gewalt: Detaillierte Beschreibungen von Blut, Verletzungen und einem tödlichen Kampf.
  • Horror und übernatürliche Wesen: Unheimliche Kreaturen wie ein dämonischer Hirsch und ein Katalan (Gestaltwandler) spielen eine zentrale Rolle.
  • Jagd- und Verfolgungsszenen: Die Hauptfigur wird von einer monströsen Kreatur gejagt, was intensive Spannung erzeugt.
  • Schock- und Ekelmomente: Körperliche Transformationen, blutige Szenen und das Zerfleischen eines Wesens werden beschrieben.
  • Nacktheit: Ein männlicher Charakter verwandelt sich aus einer tierischen Gestalt zurück und steht eine Zeit lang nackt da.

Eine ganze Weile schon war Striga unterwegs auf den unebenen Straßen dieses Waldes. Tagelang war sie bereits gelaufen und in mancher Nacht hatte sie nur eine kurze Rast eingelegt, so eilig hatte sie es, vorwärts zu kommen. Immer schwerer fiel es ihr, sich auf den müden Beinen zu halten; geschweige denn mit trägen Schritten weiter und weiter zu traben, derweil ihre Hüfte mit jeder Bewegung ein wenig mehr zwickte. Unruhig fuhr ihr Blick stetig hin und her, obgleich sie ihre Umgebung schon längst nicht mehr bewusst wahrnahm. Ihre Gedanken waren ganz und gar bei dem jungen Mann, der immer wieder in ihre Träume eindrang. Dutzende Male hatte er sich ihr in den vergangenen Monaten bereits gezeigt und doch nie offenbart, woher er kam; wohin er gehörte.
Irgendwann hatte sie dann mit ihren Freundinnen darüber gesprochen, während sie ihrer täglichen Arbeit nachgegangen waren. Manchen hatte die Erzählung die Wangen gerötet oder mitfühlend den Kopf schütteln lassen. Wenig überraschend entstanden binnen kürzester Zeit die wildesten Gerüchte und Fantasien. Warnungen wurden ausgesprochen; Ratschläge geteilt, die eigenen Träume am besten zu ignorieren, statt ihnen nachzujagen. Doch fast alle hatten ihr dies geraten: Wenn derselbe Junge gleich mehrfach in deine ganz privaten Träume eingedrungen ist, so musst du ihn ausfindig machen. Das war der Gedanke, mit dem Striga ohnehin schon eine ganze Zeit lang gespielt hatte und der auf diese Weise noch gefestigt wurde. Außer ein paar Freundschaften band sie nicht viel an diesen Ort.
Und dann, endlich, vor wenigen Tagen, hatte es einen ersten Anhaltspunkt gegeben. Diesmal hatte sich sein Gesicht in ihren Träumen klarer gezeigt. Keine detaillose Gestalt mehr, mit verschwommenen Konturen, nur auf die bloße Handlung versessen; sondern eine lebende Person, die einen länglichen Gegenstand musterte, den sie in den Händen hielt. Laubbedeckte Bäume hatten den Hintergrund gebildet und Farne wuchsen da auch. Es war eindeutig Dunkelwald gewesen; nur bei ihr zu Hause war es kalt und Nadelbäume standen überall. Das bedeutete schonmal, dass sie nach Süden gehen musste.
Eilends hatte Striga ihre Sachen gepackt und alle Vorkehrungen getroffen. Besonders ihre Mutter bedurfte einiger Überzeugungsarbeit, dass es kein Abschied für immer war. »Aber du kennst dich doch gar nicht aus, in der Welt. Hier ist es doch auch gut«, hatte ihre Mutter gesagt und sie selbst hatte kurz aufgelacht.
»Alles halb so wild. Wenn ich die Welt tatsächlich so schlecht kenne, wie du sagst, werde ich sie jetzt eben kennenlernen. Mach dir keine Sorgen, ich komme schon zurecht.« Und dann war sie gegangen.
Nur kurz war ihr Blick in die Büsche zu ihrer Rechten abgewandert, da stahl etwas jäh ihre Aufmerksamkeit. Dunkle Flecken im Laub. Dunkle Flecken im Laub und sie schillerten im Licht der untergehenden Sonne. Ein paar Schritte ging sie noch weiter, während sie den Klecksen mit dem Kopf folgte. Dann hielt sie inne.
Etwas stimmte hier ganz und gar nicht und das bereitete ihr Unbehagen. In Gedanken ging sie alle Möglichkeiten durch, während sie sich neugierig der Stelle näherte. Neben den besprenkelten Blättern ließ sie sich auf ein Knie herabsinken und tastete nach der zähen Flüssigkeit. Sie war noch ganz frisch und färbte ihre Fingerkuppen dunkel. Nachdenklich hob Striga die Finger vor ihre Augen. Genauestens begutachtete sie die glänzende Flüssigkeit; verrieb sie zwischen Daumen und Zeigefinger, geradeso als könne sie darin lesen. Der Rotstich der Substanz war eindeutig: Irgendjemand oder irgendetwas musste hier eine beachtliche Menge Blut verloren haben. Vielleicht ein verwundetes Tier? Oder war es zu einem Überfall auf einen unbedarften Wanderer gekommen? Einen Moment lang verharrte Striga und betrachtete fasziniert ihre eingefärbten Finger.
Fast unbewusst tastete ihre saubere Hand nach dem Messer, dass sie stets an dem schmalen Gürtel um ihre Taille trug. Sonderlich groß war es nicht, aber es war immerhin nicht Nichts. Dann lauschte sie – und die Welt um sie her schien ebenso gespannt zu lauschen. Weder ein verräterisches Geräusch; noch sprang irgendwer aus dem Gestrüpp, das beiderseits der Straße wuchs.
Langsam hörte ihr Herz wieder auf zu rasen und gab dem freien Willen die Kontrolle über ihren Körper zurück. Striga drückte sich in die Höhe. In diesem Moment erscholl von irgendwoher ein mitleiderregendes Fiepen. Welches Tier auch immer hier verletzt worden war – es konnte nicht weit gekommen sein.
Ihr Gewissen und ihre Vernunft waren zwiegespalten, in diesem Moment. Was sollte sie nur tun? Wofür sich entscheiden? Einerseits musste sie weiter, wollte sie doch nicht zu spät am Gasthaus ZUM SCHWARZEN KEILER eintreffen, von dem sie seit Aufbruch zu ihrer Reise bereits so viel gehört hatte. Und besonders auch auf ein warmes Bett hatte sie sich schon den ganzen Tag gefreut; genauso wie den Tag davor. Andererseits – Erneut erklang das Fiepen.
Striga schloss die Augen, sog hörbar die Luft ein und sah zu den Baumkronen auf. Der Himmel färbte sich allmählich in Grau. Sie sollte sich wirklich beeilen. Noch einmal tastete ihre Hand nach dem stumpfen Messer an ihrer Taille. Es hatte schon bessere Tage erlebt. Ihre Fingernägel suchten wie automatisch nach der kleinen Kerbe an der Klinge. Dann gab sie sich einen Ruck und brach durch das Unterholz.
Lange brauchte sie nicht nach der Herkunft der Geräusche zu suchen, ehe sie fündig wurde. Den länglichen Kopf mit dem gewaltigen Geweih darauf, dass sich mehrfach gabelte, konnte sie bereits erspähen, da hatte sie sich kaum ein Dutzend Schritte von dem Dickicht fortbewegt, welches die Straße nun vom Wald abschirmte. Verletzt lag der Hirsch auf einem moosigen Bett nebst einem knorrigen Baum, das aufgerissene Vorderbein von sich gestreckt. Blut klebte daran. Der Hirsch wirkte geschwächt und Striga war augenblicklich klar, dass das Tier wohl nicht mehr lang zu leben hatte. Schade war es schon, so edel wie es aussah. Sein kurzes Fell war gleichmäßig gewachsen, der Blick noch immer edelmütig und das mit dem Geweih gekrönte Haupt voll Würde erhoben, obgleich es dem Tod so nahe stand.
Kurz überlegte Striga ernsthaft, ob sie dem Tier nicht eine letzte Gnade erweisen sollte. Aber dafür sah der Hirsch noch bei Weitem zu lebendig aus. Sterben würde er in jedem Fall, dafür war die Verletzung eindeutig zu schwerwiegend; das Bein würde Eitern und faulen und schlussendlich den Tod herbeirufen. Aber seine Zeit war noch nicht gekommen. So war Strigas Urteil schnell gefällt: Der Hirsch würde an seiner eigenen Schwäche verenden, aber nicht durch ein Messer und schon gar nicht durch ihre Hand.
Just in diesem Moment wandte der Hirsch ihr seinen schmalen Kopf zu und beide sahen sie sich einander direkt in die Augen. Etwas wirkte falsch. Das Glänzen in seinen Augen. Die Intelligenz darin. Als hätten sie die ganze Welt gesehen. Und … hatte ihr Vater nicht immer behauptet, dass der Blick von Beutetieren zu den Seiten hin gerichtet war? Dass man diesen Umstand auf der Jagd stets mitbedenken musste?
Striga presste die Lippen aufeinander und beugte den Kopf ein wenig, so tiefe Ehrfurcht empfand sie in diesem Moment. »Ssh«, machte sie leise, wobei sie die Handflächen beruhigend in Richtung Boden streckte. Langsam, ohne eine hastige Bewegung, zog sie sich rückwärts zurück. Der Hirsch erhob sich auf seine langen dünnen Beine. Von einer Verletzung war nichts mehr zu sehen. Und er wuchs weiter.
Weiter und weiter richtete er sich auf, bog den Rücken durch, dass die Wirbel knackten und sich nun auch die Vorderläufe in die Luft erhoben. Innerhalb kürzester Zeit überragte er Striga um gut einen Meter und wirkte auf einmal gar nicht mehr so hilflos und verletzlich. Aufrecht stand das Ding da und sehnige Muskeln spannten sich über den gesamten Leib. Von oben her blickte er auf sie herab. Und noch etwas fiel Striga erst zu spät auf. Das Blut an seinen Vorderläufen: Es stammte aus keiner offenen Wunde. Dort, wo eigentlich Hufe sein sollten, klebte es ihm an den Fängen, die jeweils in gekrümmten Klauen endeten. Der Hirsch öffnete sein langes, mit spitzen Zähnen bewehrtes Maul und stieß einen schrillen, markerschütternden Schrei aus; wie von Fingernägeln, die über eine Tafel kratzten. Im ersten Moment konnte Striga nicht fassen, was sie da vor sich sah. Ihr Kopf schien wie leer. Etwas in ihr schrie: »Renn! Renn weg!« Dann übernahmen ihre Instinkte.
Der Fuß rutschte ihr weg, als sie sich fluchtartig umkehrte. Doch das Straucheln währte bloß einen Augenblick, bevor sie sich mit der Hand auf feuchtem Moos abfing, um dann über eine dicke Schicht Laub zu fliehen. Als wäre der Teufel selbst hinter ihr her, sprintete sie davon – weg von dem Ungeheuer. Noch einmal schrie es sein schrilles Kreischen, dann fiel etwas schwer zu Boden. Striga wusste, dass die Jagd in diesem Moment begonnen hatte. Die Jagd auf sie. Im Rennen spürte sie an ihren eigenen Lungen, dass sie bei Weitem nicht mehr so fit war wie einst.
Mit pochenden Sprüngen galoppierte das Untier hinter ihr her – und es holte auf. Hatte Striga schon fast die Straße erreicht, so preschte das Ding doch derart schnell hinter ihr her, dass es keine Hoffnung für sie gab, auch nur die Büsche am Wegrand rechtzeitig zu erreichen. Und dann war da kein Galoppieren mehr.
Nur ein Reflex war es, der sie einen schnellen Ausfallschritt nach rechts und hinter einen Baum tun ließ. Just in diesem Moment erscholl ein lautes Kratzen von etwas Hartem über raue Rinde. Striga spürte einen Luftzug auf ihrer Haut und hölzerne Splitter prasselten ihr in den Nacken – und sie hörte sich selbst aufschreien. Sie hatte sich bereits wieder vom Baum abgestoßen, hinter dem sie kurzzeitig Deckung gefunden hatte, als das Monster hart auf den laubbedeckten Boden aufschlug.
Striga stürzte vorwärts. Weiter rannte sie, immer weiter; tiefer und tiefer hinein in die Düsternis des Waldes. Das Tier hinter ihr stieß erneut einen schrillen Schrei aus, doch brauchte es einen Moment, sich aufzurappeln und nach Striga umzukehren.
Sie war noch nicht weit gekommen, als sie bereits wieder die schweren Sprünge etwas seitlich hinter sich hörte. Das Tier galoppierte auf allen vieren – und dann änderte sich jäh der Takt der Schritte. Kein Galoppieren mehr; dafür rasche Schritte wie die eines Menschen – schwerer und unregelmäßiger, aber auf zwei Beinen. Und es holte schnell auf. Sehr schnell.
Als es sich ihr wohl auf Sprungweite angenähert hatte – Striga war noch nicht weit gekommen –, ließ ein Reflex sie einen erneuten Satz zur Seite machen. Diesmal streifte etwas ihren Rücken; zerriss grob den Stoff des Mantels, ohne dabei jedoch Wäsche darunter zu beschädigen. Wieder schrie sie auf. Der plötzliche Zug an ihrem Rücken hätte Striga fast umgeworfen. Die schweren Schritte hinter ihr strauchelten kurz und etwas prallte hart gegen einen Baum. Selbst über den Puls in ihren eigenen Ohren hinweg konnte sie das markerschütternde Kreischen hören.
Wieder gelang es ihr, einige Schritte zwischen sich und das Untier zu bringen. Und dann – Wurzel. Noch bevor sie überhaupt eine Chance hatte, zu realisieren, wie ihr geschah, spürte Striga auch schon, wie sie hart mit der Brust auf den Boden aufschlug und dabei den eigenen Arm unter sich begrub, mit welchem sie sich abzufangen versucht hatte. Und wieder hörte sie die schweren Schritte hinter sich. Sie bremsten ab und kamen nur unweit von ihren Füßen entfernt zum Stehen.
Einen Moment lang traute sie sich nicht einmal, sich umzudrehen. Zu groß war die Furcht, dem ins Auge zu sehen, was ihr von dort entgegenblicken würde. Doch nichts geschah. Das Tier atmete schnaufend. Vielleicht war es aber auch ihr eigener Atem. Nur allmählich löste sich ihr Körper aus seiner Starre. Langsam gehorchten ihr die Glieder wieder. Zitternd und voller Furcht drehte sie sich nach dem Grauen um, das über ihr schwebte.
Das Monster stand noch immer aufrecht und auf zwei Beinen. Mit leeren Augen starrte sein langgezogener Schädel auf Striga herab, als wäre es nicht sicher, wie gut sie schmecken würde. Das Maul stand ihm eine Handbreit offen, dass milchiger Geifer auf ihre ledernen Schuhe troff. Sein gewaltiger Brustkorb hob und senkte sich in schnellem Rhythmus. Die spitzen Klauen an den Enden seiner langen dünnen Arme schabten mit einem kratzigen Geräusch aneinander. Keiner von ihnen beiden regte auch nur einen Muskel. Die Zeit um sie her schien stillzustehen. Dann legte das Untier den Kopf in den Nacken, riss das Maul weit auf und stieß seinen kreischenden Schrei aus.
Geistesgegenwärtig warf sich Striga herum, dass sie auf den Händen landete und tat einen großen Satz nach vorn, indem sie ihre Beine so kräftig sie nur konnte in den Boden stieß. Ein schwarzer Schatten glitt von vorne her an ihr vorbei, streifte sie am rechten Oberarm, wobei er ihr einen Stoß zur Seite versetzte. Eine Sekunde später gab es ein Rumsen und das Kreischen des Monsters riss jäh ab.
Striga floh weiter, während hinter ihr etwas dumpf auf dem laubbedeckten Boden aufschlug. Jemand stöhnte. Ohne sich umzublicken, stürmte sie weiter. Sie realisierte nicht gleich, dass da ein neues Geräusch gewesen war. Es war unverkennbar das Aufstöhnen eines Mannes gewesen. Kurz kam Striga ins Straucheln und verfiel in ein Laufen, während sie einen Blick über die Schulter wagte.
Das Monster war auf den Rücken geschleudert worden und gerade im Begriff, sich wieder in die Höhe zu kämpfen, wobei es eine gewisse Ungelenkheit erkennen ließ. Es schien nicht sicher auf den langen dünnen Beinen zu sein, welche sich unter seinem Gewicht in die Erde gruben. Doch etwas wirkte komisch. Da war ein Arm – nein, zwei Arme zu viel. Das Untier kämpfte gegen irgendetwas an. Da hörte Striga erneut das angestrengte, durch die Zähne gepresste Stöhnen eines Menschen. Einen Moment lang zögerte sie. Wieso war da ein Mann? Aber die Frage war unerheblich. Er musste versucht haben, ihr zu helfen. Und noch war das Monster nicht wieder auf den Beinen.
Ohne weiter zu zögern, sprintete Striga direkt auf das Untier zu. Gerade richtete sich das Hirsch-Wesen auf seine Hinterläufe auf, den Blick auf den Mann gesenkt, der zu seinen Füßen lag; als dieser ihm einen ausgesprochen kräftigen Tritt gegen das Bein versetzte. Das Monster knickte ein wenig ein, doch nur einen Wimpernschlag lang. Striga hatte es dabei offenbar nicht kommen bemerkt, denn mit dem gesamten Anlauf, den sie hatte nehmen können, rammte sie ihm die Schulter in den knochigen Leib.
Im ersten Augenblick glaubte sie, einfach zurück zu prallen, so massiv war der grässliche Körper. Ebenso gut hätte sie gegen eine Litfaßsäule rennen können. Das Monster schleuderte den langen Schädel herum. Striga konnte hören, wie das zahnbesetzte Maul schnell nach ihrem Kopf schnappte. Es roch nach Verwesung und das bloße Geräusch der Zahnreihen, die nur knapp von ihrer Wange entfernt zusammenschlugen, war schier unerträglich. Dann, wie in Zeitlupe, gingen sie beide zu Boden.
Striga landete auf dem sehnigen Brustkorb des Untiers, rutschte durch dessen schnellen Atem ein wenig weiter und kam dem schnappenden Kiefer dabei noch ein wenig näher. Da erst fiel ihr auf, wie gefährlich und undurchdacht ihre Aktion eigentlich gewesen war. Die Zähne klappten hässlich aufeinander, während das Monster den Kopf ruckartig hin und her warf. Einmal glaubte Striga auch die Klauen-besetzten Fänge über ihren Rücken fahren zu spüren, doch schienen sie nicht beweglich genug, sie zu greifen.
Am Rande ihres Blickfelds bewegte sich etwas. Striga hatte es im ersten Moment nicht kommen sehen. Es war von der Größe eines großen Hundes und das schwarz glänzende Fell ließ seine Konturen auf sonderbare Weise mit der düsteren Umgebung verschwimmen, dass es beinahe unsichtbar war. Es sprang direkt auf das Hirsch-Monster zu; verbiss sich mit langen spitzen Zähnen in seinem Hals, nur wenige Zentimeter von Strigas Leib entfernt. Blut quoll in einem dünnen Bach aus dem Fell des Untiers und färbte die Zähne des hundeähnlichen Geschöpfes dunkel. Das Monster fauchte und schnappte immer verzweifelter um sich, schaffte es aber weder, sich in die Höhe zu kämpfen, noch das hundeähnliche Wesen zu erwischen.
Striga rappelte sich auf, so schnell sie konnte. Der Mann, den sie anfangs zu sehen geglaubt hatte, war verschwunden. Verzweifelt taumelte sie ein paar Schritte zurück, wobei das Laub unter ihren Schuhen raschelte. Das hundeähnliche Geschöpf riss weiter das Maul herum und biss immer weiter nach, immer und immer tiefer in den Hals des Monsters, dessen Bewegung langsamer und stetig matter wurden. Es versuchte wohl noch, ein letztes verzweifeltes Kreischen auszustoßen; aber es war leise und verhallte in einem Mitleid-erregenden Fiepen.
Irgendwas tat sich an dem Bild, doch Striga vermochte nicht zu erkennen, was genau es war. Und dann steckte da ein rostiges Messer in der rechten Flanke des Monsters. Das hundeähnliche Wesen machte einen Schritt zur Seite, ließ den Hals des Untiers dabei aber nicht los, wodurch die Wunde nur noch weiter aufriss und das Blut pulsierend in einem dünnen Schwall aus dem Halse schoss. Striga tat einige zögerliche Schritte zurück. Sie wusste nicht, was hier los war. Sie wusste nur so viel: Sie musste weg von hier, weg von diesem Ort.
Erst als das Monster auf dem Boden aufhörte zu zittern und sich zu bewegen, ließ das andere Geschöpf von ihm ab – und wandte den schmalen schwarzen Schädel Striga zu. Die Augen glänzten im fahlen Licht des Mondes. Langsam und bedächtig zog Striga sich zurück. Das dürre Geschöpf machte einige kleine Schritte hinter ihr her, die Ohren eng an den Kopf angelegt und die blutigen Zähne gefletscht. Striga wich weiter zurück. Sie hätte sich davonmachen sollen, als noch die Gelegenheit dazu bestanden hatte.
»Komm schon, bleib wo du bist«, versuchte sie mit beschwörerischer Stimme auf das hundeähnliche Wesen einzureden. Die fahrige Hand zu einer beruhigenden Geste erhoben, tat sie einen um den anderen Schritt rückwärts; aber mit jedem Schritt, den sie machte, folgte ihr das Wesen weiter auf.
Ihr rechter Fuß blieb an irgendetwas hängen und um ein Haar wäre Striga gestolpert. Es fühlte sich an wie eine Ranke, nur viel weicher. Gerade noch rechtzeitig konnte sie ihren Fuß befreien, dass sie nicht das Gleichgewicht verlor. Weiter und weiter wich sie zurück, während ihr die Kreatur auf Schritt und Tritt folgte.
»Komm, mein Kleiner. Bleib einfach da, wo du bist«, tat sie einen erneuten Versuch, »Ich will dir nichts tun.« Tausende Gedanken wirbelten ihr durch den Kopf, aber keiner von ihnen schien greifbar. Und dann – verharrte das Tier in der Bewegung.
Habe ich es geschafft?, dachte sie bei sich, Bin ich weit genug weg? Lässt es mich gehen? Oh Gott, es setzt zum Sprung an, – da wandelte sich das Bild. Genauer: Der Leib des Tiers wandelte sich. Das Wesen verformte sich, zog sich in die Länge. Sein Rücken bog sich durch und Gelenke knackten.
»Scheiße, was zum –« Striga traute ihren Augen kaum, als die nun nicht mehr ganz so hundeähnliche Kreatur seine Vorderpfote an einen nahegelegenen Baum legte, während sein Körper langsam daran emporwuchs.
Das kann doch nicht dein Ernst sein, ging es ihr durch den Kopf. Noch ein Monster. Das Fell fiel ihm büschelweise vom Leib und entblößte dürre Arme und Beine, die zuckend anschwollen. Das alles ging so schnell, dass Striga nicht verstand, was hier überhaupt geschah. Doch sie musste handeln, und zwar sofort. Solange es sich noch nicht verwandelt hatte, hatte sie vielleicht eine Chance. Sie stürmte vorwärts, direkt auf das sich wandelnde Untier zu. Vielleicht würde sie es rechtzeitig schaffen, ihm die Augen auszukratzen, das Messer von ihrem Gürtel in die Seite zu rammen, oder es auf irgendeine andere Art zu verstümmeln. Und dann, nur einen Moment später, stand da ein Mann; splitternackt, mit zittrigen Schultern.
Überrascht keuchte Striga auf. Dreck und Blut klebte dem Mann überall auf der Haut; an Hals, Brust und Armen. Das war zu viel für sie. Zu viel von allem. Ihr Körper wollte ihr einfach nicht mehr gehorchen und auch Worte schienen keine mehr zu existieren. Sie konnte nur noch starren, immerzu auf die bloße Haut des Fremden, der aus dem Nichts gekommen war.
Der Mann trat von einem Bein aufs andere. Auch er schien überfordert von der Situation, doch fing er sich als Erster wieder. »Das ist doch …« Der Mann brach im Satz ab und räusperte sich. Seine Stimme klang rau und unstet; so als wäre sie entweder schon sehr lange nicht mehr benutzt worden, oder als hätte zu viel Tabakrauch ihr einigen Schaden zugefügt. Der Mann tat einen erneuten Anlauf: »Das ist ein ganz schöner Dreck, in den du dich da reingeritten hast.«
Striga tat einen Schritt zur Seite, nur um die Hand an einen Baum legen zu können. Sie brauchte etwas Stetes. Sonst, so hatte sie das Gefühl, würde sie jeden Moment umkippen. In was war sie hier nur reingeraten? Tausende und Abertausende Fragen wirbelten ihr durch den Kopf, und als es zu viele wurden, stellte sie die erste, die ihr in den Sinn kam: »Was war Das denn, verfickte Scheiße nochmal?!«
Der Andere legte den Kopf schief. »Ein einfaches ›Danke‹ hätte es auch getan.« Er tastete nach seinem Auge, von dem aus ihm ein Kratzer bis über die Schläfe führte. Als er erkannte, dass Striga zu keiner Erwiderung in der Lage war, zuckte er nur teilnahmslos mit den Schultern. »Bist eigentlich selbst schuld. Du hast den Wendigo doch erst herausgefordert.« Er warf irgendwas in Strigas Richtung – ein Stück Rinde oder etwas in der Art. Es prallte ihr gegen die Hüfte und fiel ins Moos, als sie keine Anstalten machte, es aufzufangen.
»Es war halt schon dämlich, das musst du zugeben. Zumal es rein gar nichts gibt, was du hier überhaupt zu suchen hast. Wärst du einfach auf der Straße geblieben, dann –«
»Willst du mich eigentlich verarschen?!«, unterbrach Striga ihn aufgebracht und merkte dabei selbst, wie unangenehm ihre Stimme durch die Dämmerung schnitt. »Woher sollte ich bitteschön wissen, dass dieses Monster –«
»Es ist kein Monster!«, fuhr der Andere jäh dazwischen. Seine Stimme klang laut und bestimmt. Er tat einen kurzen Schritt auf sie zu; verharrte dann jedoch in der Bewegung, sah auf in den Himmel, wo sich die ersten Sterne zeigten, und tat einen tiefen Atemzug. »Ich meine: Es war kein Monster. Es war ein Wendigo. Manche nennen sie auch Nicht-Rehe oder Nicht-Hirsche.« Sein Blick schien von einem Stern zum nächsten zu fahren und blieb zu guter Letzt am fahlweiß scheinenden Mond hängen. Seine Augen wirkten traurig und müde. »Wärst du einfach auf der Straße geblieben, hättet ihr wunderbar nebeneinander her existieren können. Ihr wärt euch nie begegnet. Dein Raum ist die Straße, sein Raum war der Wald. Du hast seinen Nachwuchs bedroht.«
»Es gibt mehr als einen?«
Ein Lächeln huschte über die Lippen des Fremden. »Glücklicherweise. Weiter im Norden gibt es ganze Kolonien von Wendigowak. Aber sie leben fernab der Menschen und betreten die Dörfer nur, wenn sie müssen.«
Striga klappte die Kinnlade runter. »Was?!«
»Sie betreten die Dörfer nur, wenn sie müssen. Im Grunde sind sie harmlos.«
»Der da vorne sah mir aber nicht harmlos aus«, erwiderte Striga aufgebracht, wobei sie auf den riesigen Leib hinter dem Mann wies.
»Für den Nachwuchs ist es sicherer, die Kolonie zu verlassen. Männliche Wendigowak fressen sie sonst nur zu gern.«
»Und wo ist dann der Nachwuchs?«
»Versteckt vielleicht? Oder auf Jagd nach irgendeinem Kaninchen. Wer weiß das schon. Sie werden uns aber nicht gefährlich werden. Vorausgesetzt natürlich, du provozierst sie nicht auch.« Dabei zwinkerte der Fremde ihr zu, doch seine Lippen blieben ernst.
Striga fiel es schwer, sich zu beherrschen. »Das Monster ist das eine, aber was bist du?! Du warst eben noch selbst ein Monster!«
Der Andere sah aus, als hätte man ihn geohrfeigt. Seine Schultern sanken ein wenig ein und auch seinen Kopf senkte er kaum merklich. »Ich bin kein Monster, hörst du? Das bin ich nicht.«
»Und was bist du dann?«
»Ich bin Kein Monster.« Diesmal klang er energischer, fast schon aggressiv. »Ich kann meine Gestalt wechseln, wenn du das wissen willst. Aber das macht mich zu keinem geringeren Menschen, als du es bist. Sag mir: Was unterscheidet dich selbst von einem ›Monster‹, wie du es nennst?«
Unmittelbar fühlte sich Striga unwohl in ihrer Haut. Sie hatte dem Anderen nicht zu nahe treten wollen; hatte ihn nicht beleidigen wollen. Sie murmelte eine knappe Entschuldigung. Die Hände an ihren Seiten blieben dennoch zu Fäusten geballt. In ihrem Kopf wirbelten die Gedanken noch immer im Kreis. Soeben hatte der Fremde ihr das Leben gerettet, und worüber handelte ihr Streitgespräch?!
»Hast du eigentlich irgendwo Kleidung? Du musst dir endlich was anziehen, ich kann nicht ewig weggucken.« Das war eine Lüge, aber Striga hoffte darauf, dass ihre Neckerei ihre eigene Nervosität zu überspielen vermochte.
Der Andere ließ den Blick an seinem Körper hinabgleiten, so als hätte er noch gar nicht bemerkt, dass er die ganze Zeit über vollkommen nackt dagestanden hatte. »Kleidung … ja.« Der Mann wirkte irritiert. »Ich glaube, deshalb bin ich eigentlich hinter dir hergekommen. Bevor ich mich gewandelt habe, meine ich. Zumindest glaube ich das. Aber du musstest natürlich auf meine Hose latschen.« Er verdrehte betont genervt die Augen, bevor er sich bückte und irgendwo aus dem Laub ein Bündel Kleidung hervor fischte. Im Dunkeln war der Stoff schwer zu erkennen und mit einem Mal wusste Striga, über was sie beim Zurückweichen beinahe gestolpert wäre.
»Wieso liegt deine Kleidung hier rum?«
Der Andere lachte amüsiert auf. »Naja, ein Katalan in Hosen sieht wohl irgendwie scheiße aus. Außerdem bräuchte ich dann schmalere Hosenbeine.«
Selbst Striga musste nun grinsen. »Katalan«, wiederholte sie nachdenklich. »Das war es also, in das du dich verwandelt hast.«
Der Fremde nickte. »Katalan, ja. Ich habe aber auch noch einige andere Formen auf Lager.« Er zuckte mit den Achseln, während er in seine Hose stieg. »Der Katalan war bloß die erste, die mir in den Sinn gekommen ist.«
Striga hätte gern gelacht, doch der leblose Leib des Monsters, das noch immer nur wenige Schritte von ihnen entfernt lag, ließ ihr das Lachen im Halse stecken. »Sag mal: Wie heißt du überhaupt?«
Der Andere blickte von dem Hemd auf, das er gerade im Begriff war, anzuziehen. »Du zuerst.«
»Wenn du meinst. Mein Name ist Striga.«
»Striga … Und weiter?« Der Mann legte den Kopf schief.
»Striga Purizer. Du siehst enttäuscht aus.«
»Ich dachte nur … Naja, ich dachte, du wärst jemand anderes. Also, bevor ich dich gerettet habe, meine ich.«
»Ach. Und wen hast du sonst geglaubt, hier zu finden?«
»Einen Jungen. Mir wurde gesagt, dass ich ihn hier irgendwo in der Gegend finden könne.«
»Wer, der noch bei Verstand ist, sollte denn –«
»Sich abseits der Straße aufhalten, meinst du?«, unterbrach der Andere und seine Mundwinkel zeigten einen Anflug von Belustigung. »Wie dem auch sei. Vielleicht hast du ihn ja trotzdem gesehen. Er ist noch keine achtzehn Jahre alt; kurzes blondes Haar. Er wäre dir sicherlich aufgefallen: Er scheint irgendwie verplant und nicht hierher zu passen.«
»Ah«, machte Striga und verstand doch rein gar nichts. »Und was ist so besonders an dem Jungen, dass du ihn hier suchst? Ich meine: Ich beschwere mich nicht, ich bin bloß neugierig.«
»Was so besonders an dem Jungen ist, das tut nichts zur Sache. Wenn du etwas weißt, sag es mir. Das wäre zumindest eine angemessene Entlohnung für meine Hilfe, würde ich meinen. Er hört wohl auf den Namen Jonas. Jonas Seeker.«

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